Für Eltern, deren erwachsene Kinder den Kontakt abbrechen, bricht eine Welt zusammen. Woher kommt der Wunsch, die Familienbeziehung zu beenden? Wie sollen Eltern reagieren? Betroffene und eine Expertin geben Auskunft.
Erleichterung. Sie spricht aus jeder Person, die für diesen Artikel befragt wurde. «Ich fühle mich leichter.» Oder: «Der grösste äussere Stressfaktor ist weg.» Solche Sätze hört man, wenn Betroffene darüber sprechen, wie es ihnen nach dem Kontaktabbruch geht. Machen es sich erwachsene Kinder, die den Kontakt zu Mutter, Vater oder beiden abbrechen, zu einfach? Sollten sie sich stärker mit den Eltern auseinandersetzen? Oder gibt es Momente, die das Fass zum Überlaufen bringen? Das haben wir Betroffene gefragt.
Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Konflikte selbst. «Ausschlaggebend war eine Rechnung, die mein Vater mir schickte. Mit allen Ausgaben, die er bis anhin mit mir hatte. Da hatte ich genug», erzählt uns Karin, eine 44-jährige Sekretärin.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt
Stefan hingegen muss weiter ausholen. «Alles drehte sich um meine Mutter. Wenn es nicht nach ihren Vorstellungen lief, gab es Konflikte und Manipulationsversuche. Sie mischte sich in die Erziehung, Familienfeste und sogar in die Beziehung zu meiner Frau ein. Der entscheidende Punkt kam, als ich den Wunsch äusserte, mehr Zeit ohne sie verbringen zu wollen. Sie konnte das nicht akzeptieren und verlangte eine Entschuldigung.» Der 53-jährige Familienvater sah jedoch keinen Grund dafür.
Andrea wiederum wollte Interior-Designerin werden, doch ihre Eltern setzten ihrem Berufswunsch Grenzen. Sogar als Erwachsene kämpfte sie noch mit Verboten und Einschränkungen. «Ich durfte weder studieren, was ich wollte, noch wo ich wollte – nichts war je gut genug. Als ich dann mit 25 mit meinem Freund Ferien plante und zum Telefon griff, um meine Eltern um Erlaubnis zu bitten, wurde mir schlagartig klar, dass etwas nicht stimmt.»
Eltern können nicht loslassen
Häufig sind Erwartungshaltungen und übergriffiges Verhalten die Ursache für emotionale Distanz zwischen Eltern und erwachsenen Kindern. Doch warum gleich ein Kontaktabbruch? Könnte man das nicht ausdiskutieren? «Oft ist es dafür zu spät oder es war gar nie möglich», sagt Claudia Haarmann, Psychotherapeutin und Autorin des Buches «Kontaktabbruch in Familien».
«Kontaktabbrechende Kinder wollen auf Augenhöhe mit den Eltern reden. Sie wollen ernst genommen werden – mit ihren Wünschen und Charaktereigenschaften. Sie sind keine Kinder mehr und möchten auch so behandelt werden. Viele Eltern können jedoch nicht loslassen. Der Abbruch zwingt sie, genau das zu tun.»
Dieses Problem ist nicht neu, aber heute scheint es mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Das Hashtag #toxischeEltern deutet darauf hin, dass es besonders bei jüngeren Menschen ein grosses Thema ist. «Diese Generation ist die erste, die wirklich hinschaut und sich fragt: Wie fühle ich mich dabei?», erklärt Haarmann. «In den 70ern und 80ern Geborene begannen damit, zu hinterfragen, was Beziehungen wirklich ausmacht. Wie leben wir Nähe, wie zeigen wir Gefühle.»
Eltern wollen ihren Kinder fast nie Böses
Für Claudia Haarmann ist dies ein Heilungsprozess, den frühere Generationen nie durchlaufen haben. Trotzdem zeigt der Hashtag oft Eltern als absichtlich respektlos. «Nein, Eltern, die nicht psychisch krank sind, wollen ihren Kindern nie Böses. Sie tun ihr Bestes», betont Haarmann. Doch in sozialen Medien wird bekanntlich das Gegeneinander häufig stärker hervorgehoben als das Miteinander.
«Eine Mutter sagte mir einmal, nachdem sie seit zwölf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter gehabt hatte: ‹Alles, was ich unter Liebe verstehe, habe ich gegeben.› Viele Eltern kennen keine andere Art von Liebe», berichtet Haarmann mit hörbarem Mitgefühl. Bedeutet das, dass man den Eltern alles verzeihen muss? «Nein!», stellt Haarmann klar. Es gibt Grenzen. Ein Bruch sei in den meisten Fällen der Endpunkt zahlreicher, gescheiteter Versuche. Aber wenn Eltern nicht bereit seien, zuzuhören, sei die Grenze erreicht.
Kinder wollen Eltern schützen
«Du musst mich mehr respektieren als ich dich», sagte Stefans Mutter, als er vor zehn Jahren versuchte, die Beziehung zu ihr wieder zu kitten. Sonja hingegen, selbst Mutter von zwei Kindern, erzählt, dass ihre Mutter ihr nach dem Bruch weiterhin Babyfotos von ihr schickte mit dem Kommentar: «Damals war noch alles in Ordnung».
Bemerkenswert ist jedoch, dass die Befragten trotz allem noch Rücksicht auf die Gefühle ihrer Eltern nehmen. So wollen sie hier anonym Auskunft geben, um ihre Eltern zu schützen. «Die wenigsten erwachsenen Kinder wollen ihren Eltern schaden. Der Abbruch ist eine Überlebensstrategie, weil sich das Kind nicht gehört und nicht verstanden fühlt», erklärt Haarmann.
Sie sieht täglich in ihrer Praxis, dass viele dieser Brüche nicht endgültig sind. «Die Mehrheit der Kinder wird irgendwie in Kontakt bleiben. Über Geschwister oder sonstige Familienmitglieder. Gerade jüngere Erwachsenen können wieder Nähe aufbauen, wenn sie sich selbst in ihrem Leben, ihrer Partnerschaft, ihrem Beruf gefestigt fühlen. Doch um das zu erreichen, müssen sie sich oft erst einmal von den übergriffigen Eltern lösen. Wer das nicht in jungen Jahren tut, holt es vielleicht später nach.»
Von den befragten erwachsenen Kindern bereut niemand den Kontaktabbruch zu den Eltern. «Im Gegenteil, ich würde die Entscheidung immer wieder fällen», betont Sonja. «Es ist traurig, dass es so weit kommen musste. Aber ich musste meine Familie und mich schützen», sagt auch Stefan.
Was können Eltern tun, um den Kontakt wiederherzustellen? Haarmanns Antwort überrascht: «Gar nichts.» Einfach hinnehmen? «Respekt ist das Schlüsselwort. Wenn das Kind den Abbruch beschlossen hat, müssen Eltern das erst einmal akzeptieren.» Eine Ausnahme sieht sie jedoch. «Eine kurze Nachricht mit ‹Ich bin da, wenn du mich brauchst – weil du mir wichtig bist› ist durchaus sinnvoll. Vermeiden Sie jedoch Zusätze, die ein Aber beinhalten.»
Claudia Haarmanns neustes Buch «Der Schmerz verlassener Eltern» erscheint Ende Oktober im Kösel-Verlag, München.
Dieser Artikel erschien erstmals am 8. Oktober 2024 im Tages Anzeiger.