Tages Anzeiger: Die Wirkung narzisstischer Mütter auf ihre Kinder

Ein schmerzhaftes Erbe: Wie Überlebensstrategien und Manipulation das Leben von betroffenen Kindern prägen.

«Zwei meiner drei Schwestern waren die Lieblinge meiner Mutter», sagt Susanna, und es fällt ihr sichtlich schwer, über das Thema zu sprechen. «Wir anderen zwei mussten während der Ferien arbeiten – Wäsche waschen, putzen, kochen –, um für unsere Kleidung und andere Dinge aufzukommen. Meine ältere Schwester musste sogar die Verantwortung für uns Jüngere übernehmen und für uns sorgen, damit meine Mutter freihatte. Ich hingegen wurde regelrecht ignoriert und jeweils beim Heimkommen kaum gegrüsst. So als gehörte ich nicht dazu.»

Eltern prägen uns, und die Spuren ihrer Erziehung begleiten uns ein Leben lang. Besonders traumatisierend ist dies bei narzisstischen Eltern. Heutzutage wird der Begriff Narzissmus inflationär verwendet – sobald jemand auch nur ein wenig eingebildet oder egozentrisch ist, wird sofort die Narzissmus-Keule geschwungen. Doch hinter diesem Etikett verbirgt sich ein ernst zu nehmendes Problem, das leider selten therapiert wird. Eine narzisstische Person erkennt in der Regel nicht einmal, dass sie unter diesem Persönlichkeitsmerkmal leidet. Noch weniger wäre sie bereit, dies einzusehen. Narzissten sehen sich stets als Opfer, nie als Täter und glauben fest daran, dass sie immer recht haben.

Narzissmus – ein Überblick

Narzissmus gilt nicht als Krankheit, sondern als Persönlichkeitsstörung. Die Wahrscheinlichkeit für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung liegt gemäss dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) zwischen 0% und 6,2%. Besonders Jugendliche neigen zu Narzissmus, was aber nicht bedeutet, dass sie auch zwingend eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln.

Es wird deshalb davon ausgegangen, dass ca. 1% bis 2% der erwachsenen Bevölkerung eine narzisstische Persönlichkeitsstörung aufweisen.

50% bis 75% der Personen mit der Diagnose «narzisstische Persönlichkeitsstörung» sind männlich.

Der sogenannt weibliche oder auch fragile Narzissmus ist entsprechend anders ausgeprägt. Solche Personen operieren weniger mit Grandiosität – wie etwa Männer mit Macht –, im Gegenteil. Fragile Narzissten wirken unsicher, verletzlich und manipulieren ihre Mitmenschen mit Schuldgefühlen. Dadurch schaffen sie eine emotionale Abhängigkeit, die gerade innerhalb von Familien fatal sein kann.

  • Mangel an Empathie
  • Eigene Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt.
  • Gefühl der Überlegenheit
  • Kennen keine eigenen Fehler und Schwächen
  • Manipulatives Verhalten.
  • Werden schnell wütend.
  • Starkes Bedürfnis nach Bewunderung
  • Lieblingskinder, die bevorzugt werden
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36595560/

Kontaktabbruch als einzige Überlebensstrategie

Der Tod ihres Vaters war der sprichwörtliche Sargnagel für die Beziehung zwischen Susanna und ihrer Mutter. Diese hielt den Tod ihres Ehemanns vor Susanne geheim und verwehrte ihr sogar die Teilnahme an der Beerdigung. «Das war vor zehn Jahren, seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr», sagt Susanne.

So oder ähnlich klingen viele der Berichte über narzisstische Mütter. Die Frauen, die ich dazu befragen durfte, zeichnen alle ein ähnliches Bild: Den Müttern fehlte es an Kritikfähigkeit, sie beanspruchten ständig Aufmerksamkeit und bevorzugten ein Kind eindeutig gegenüber den anderen. «Mir wurde im Laufe der Zeit klar, dass meine Entscheidung, keine eigenen Kinder zu haben, eng mit meiner eigenen Geschichte verbunden ist. Ich wurde stets so behandelt, als wäre ich wertlos.» Susanne ist mittlerweile 59 Jahre alt und seit 34 Jahren mit einem liebenden Mann verheiratet.

Das Gefühl der Wertlosigkeit kann Frauen wie Susanne stark und belastbar machen, während andere fast daran zugrunde gehen. Evelyne, 41 Jahre alt und allein lebend, leidet unter chronischer Erschöpfung und Schmerzen. Ihr Nervensystem ist stark dereguliert, was bei Stress zu Schwindel, übermässigem Schlafbedürfnis, Ohnmacht und Herzstolpern führt. In einer Umgebung, in der «Gaslighting» – also das bewusste und gezielte Absprechen der Gefühle anderer – bezeichnend für narzisstische Persönlichkeiten ist, wird jedes Fehlverhalten legitimiert, kleingeredet und bestritten. Das kann bei Betroffenen zu erheblichen Problemen mit der Selbstwahrnehmung führen. Evelyne bezeichnet ihre Mutter als «hochmanipulativ». Auch ausserhalb der Familie erpresste diese Menschen emotional durch gespielte Wutanfälle und Heulkrämpfe. «Einmal gab sie sogar zu, damit jeweils ihr Ziel zu erreichen», so Evelyne.

Obwohl Evelyne als Jugendliche den Gang zum Jugendamt in Erwägung zog, wagte sie es nie, diesen Schritt zu gehen, aus Angst, ihre Mutter zu verletzen. Erst als ihre Freunde ihr versicherten, dass das, was sie erlebte, keineswegs normal war, wagte sie den Kontaktabbruch. Das ist jetzt drei Jahre her.

Das Schönreden der Probleme ist typisch für Opfer von narzisstischen Eltern, wie Delia Schreiber, Psychotherapeutin und Seminarleiterin, erklärt: «Im Elternhaus wird unserem noch eher unterbewusst funktionierenden Kinderhirn vermittelt, was ‹normal› ist. Wir werden in unserem Elternhaus geprägt, lernen erste Kommunikationsspielarten und erfahren, was Beziehungsqualität bedeutet. Mit einer narzisstischen Mutter lernen viele Kindern, dass toxische Kommunikation und das unzuverlässige, volatile Wohlwollen in Beziehungen normal sind. Narzisstische Mütter kehren die Verantwortung um: Nicht die Mutter ist dann bedingungslos für das emotionale Wohlbefinden des Kindes zuständig, sondern das Kind für die Mutter.» Das Kind lerne so unbewusst: «Ich bin verantwortlich für die Stimmungen und die Gefühle von Mama. Ich muss schauen, dass es ihr gut geht.» Das sei eine katastrophale Überforderung für ein Kind, so Schreiber. Viele würden diese Prägung nie wieder los und fühlten sich ein Leben lang überverantwortlich – nicht nur für die eigene Mutter, sondern auch für Partner, Vorgesetzte, erwachsene Kinder.

Manipulation durch Schuldgefühle

Auch Evelyne erlebte emotionalen Missbrauch durch ihrer Mutter. «Ich fühlte mich ständig für ihre Emotionen verantwortlich und musste dafür sorgen, dass es ihr gut ging.» Oft musste sie ihr die Haare kämmen, sie massieren oder mit ihr kuscheln. Und obwohl sich Evelyne teilweise ekelte, tat sie es dennoch. «Sie versicherte mir, dass ich die Einzige sei, die ihren Schmerz lindern könne.»

Töchter fühlen sich schuldig, wenn sie offen über ihre Gefühle sprechen und dadurch ihre Mütter verletzen könnten. «Warum tust du mir das an? Nach allem, was ich für dich getan habe!» Solche und ähnlich pathetische Vorwürfe mussten meine Interviewpartnerinnen jahrelang über sich ergehen lassen.

Aufopferung als Daseinsberechtigung

Carla, 54 Jahre alt und zweifache Mutter, hat im Laufe der Zeit Überlebensstrategien entwickelt, die sie bis heute anwendet. «Ich bin immer für andere da, um eine Daseinsberechtigung zu haben», erklärt sie. Dabei überschreitet sie oft ihre eigenen Grenzen. «Damals hat mich das gerettet. Wenn ich meine Mutter in den Mittelpunkt stellte, war ich vor ihrer vernichtenden Art sicher.»

Schon früh drohte Carlas Mutter ihr mit Suizid, wenn etwas nicht nach ihrem Willen lief oder sie anderer Meinung war. «Mir wurde im Gespräch mit anderen bewusst, dass ich keinen Raum hatte, in dem andere ihre Mütter sogar als ‹dumme Kuh› beschimpfen konnten, ohne dass es ein Drama gab. Meine Mutter las meine Tagebücher und machte meine Talente runter. Singen war meine Leidenschaft, doch mein Wunsch nach einer professionellen Ausbildung wurde von ihr mit der Aussage beendet, ich sei zu hässlich für die Bühne. Sie warnte auch meine Gastfamilie vor mir, sagte, ich sei kein guter Mensch, und riet ihr mich besser nicht als Au-pair einzustellen.»

Carla und Evelyne haben in Therapien viel Unterstützung erhalten, um schädliche Muster nicht zu wiederholen und ein eigenständiges Leben zu führen. Auch Delia Schreiber ist überzeugt, dass es konstruktive Hilfe gibt: «Narzisstischer Missbrauch und die oft damit einhergehende psychische Gewalt traumatisieren Menschen. Das wird den Opfern oft abgesprochen. Ein Trauma lässt sich gut bearbeiten und ist kein Drama, sondern eine Schutzreaktion des Gehirns. Es ist wichtig, jemanden zu finden, der ein kombiniertes Fachwissen in den Bereichen Trauma durch emotionalen Missbrauch, Traumatherapie und Verständnis für toxische Verhaltensweisen aufweist.» Diese Erfahrungen müssten heilend in den Prozess integriert werden, damit Betroffene von wiederkehrenden Mustern und dem sogenannten Trauma-Bonding befreit werden könnten, so Schreiber. Erste Anlaufstellen können Selbsthilfegruppen oder Opferhilfestellen sein.

Und wo waren die Väter, die Geschwister, die Verwandten? Warum haben sie sich nicht für ihre Töchter, Schwestern und Enkelinnen eingesetzt? «Mein Vater hat sich nicht für die Situation interessiert», stellt Carla nüchtern fest. Auch die anderen befragten Frauen sahen ihre Familienmitglieder nie als Beschützer; sie hatten selbst Mühe, mit den Narzisstinnen fertigzuwerden. Für Kinder und Jugendliche ist das fatal, denn sie erhalten von niemandem den Hinweis «Mit deiner Mutter stimmt etwas nicht». Im Gegenteil, sie suchen die Schuld bei sich, um sich die Bindung zur Mutter zu sichern. Daher sind wir auch als Gesellschaft gefordert, uns nicht nur für unsere eigenen Kinder zu interessieren. Jeder unterstützende Kontakt mit einem Erwachsenen kann lebensrettend für die Resilienz eines Kindes sein, das von narzisstischen Eltern betroffen ist.

*Namen von der Redaktion geändert.

Erstmals erschienen im Tages Anzeiger vom 22. Mai 2024

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